Mittwoch, November 29, 2006

Die Höhle

In einer Höhle unter der alten Eiche wohnt Willibald. Es ist keine schlammige, nasse, dunkle Höhle, voller Würmer und moderndem Geruch, es ist auch keine trockene, sandige Höhle. Es ist die Höhle von Willibald, und das bedeutet Behaglichkeit.

Eine grüne runde Türe mit einem leuchtenden Messingknauf in der Mitte befindet sich am Eingang der Höhle. Sie öffnet sich in einen länglichen Raum mit getäfelten Wänden. Am Boden ist ein farbig gewobener Teppich ausgelegt. Viele hölzerne Haken für Jacken und Mützen reihen sich an der Wand hinter der Türe, denn Willibald liebt Besuch. Ein Gang führt weiter in den Hügel hinein. Ganz im Innern befinden sich Schlafzimmer, Küche, Badezimmer und eine gemütliche Stube. Einige Sonnenstrahlen scheinen durch ein rundes Fensterchen auf einen krummbeinigen alten Eichentisch. Darauf steht eine Kerze in einem goldenen Ständer und ein schwarzes Tintenfass mit einer Schreibfeder. Verschiedene Landkarten liegen ausgebreitet auf einer zerschlissenen Unterlage. Ein gepolsterter Sessel steht vor dem Schreibtisch. In einer Ecke des Raumes züngelt ein lustiges Feuerchen vor sich hin. Die Flämmchen scheinen voller Lebenslust zu tanzen. Ein würziger Duft von Thymian, Oregano und Majoran strömt aus der Küche und erfüllt die Räume. Hölzern eingerahmt hängen grosse und kleine Bilder an den Wänden. Kleine, krausköpfige Kreaturen lächeln daraus, Urahnen und Verwandte von Willibald. Einige haben eine Pfeife im Mundwinkel, andere stehen mit einer Heugabel oder einer Schaufel im Feld.

Nur auf der einen Seite hat es Fenster. Durch sie entdeckt der aufmerksame Betrachter überall verstreut auf dem Hügel kleine runde Türen, die sich zum wolkenlosen Himmel öffnen. (Hügel wird er von allen Leuten in der Umgebung genannt.) Unterhalb umfasst eine immergrüne Hecke den gepflegten Garten. Basilikum, Estragon, Engelwurz und Koriander gedeihen prächtig zwischen Kopfsalat und Pelargonien. Hohe und niedrige Blumen recken und strecken ihre Köpfe zur Sonne. Die Wiese ist gemäht. Ein Bächlein schlängelt sich durch die Fluren am Fusse des Hügels. Darüber hinaus breiten sich hell- und dunkelgrüne, gelbliche und bläuliche Felder aus. Weiter unten erkennen wir dunkle Punkte. Einige bewegen sich Feld auf, Feld ab, andere stehen still. Gehen wir doch etwas näher! Die Punkte formen sich zu kleinen Geschöpfen. Kraushaarig und stupsnasig, robust gebaut sind sie. Alle sind fleissig. Einige lockern den Boden mit einer Hacke, andere wenden mit einer Heugabel das halbtrockene, gemähte Gras und jemand treibt einen Esel an, der einen Pflug hinter sich herzieht. In einiger Entfernung sammeln Frauen in bunten Röcken Erdbeeren und Heidelbeeren. Alle sind emsig am Arbeiten. Alle?

Etwas abseits, oben auf einem Hügel im Schatten einer Eiche, sitzt eine kleine Kreatur. Sie scheint noch jung zu sein. Krausiges Haar ringelt sich um den

rundlichen Kopf. Ihre dunkelbraunen Augen gucken verträumt hinaus in die Welt. Mit dem Stupsnäschen nimmt sie
die feinsten Düfte wahr. Die roten Bäcklein verraten, dass sie gerne an der frischen Luft ist. Ihren olivgrünen Pullover ziert ein orangfarbener Kragen. Diese Kreatur gleicht eher einem Menschen als einem Kobold, obwohl ihr Wuschelkopf nur ein wenig über die Hüfte eines ausgewachsenen Menschen ragt.

Aus der Ferne erklingt eine rauhe Stimme: “Willibald, wo bist du?“ Arbeiten sollst du! Das Heu muss in die Scheune, bevor die Nacht hereinbricht! Hast du nichts Besseres zu tun als zu faulenzen?“ Erschrocken blickt Willibald auf. Eben noch hat er geträumt. Die Musik der himmlischen Heerscharen erklingt noch in seinen Ohren. Die silbernen Kirschen des Mondes, die goldenen Äpfel der Sonne1, wohin sind sie entschwunden? „Willibald, kommst du endlich?“ Die Stimme holt ihn aus dem Traum. Einen letzten Blick wirft er auf das weite Perlenmeer. Die Sonne sendet ihre letzten Strahlen über den Horizont. Kleine Wellen schlagen auf der Brandung auf und singen ihr Abendlied. Sie kommen und gehen. Einige verwandeln sich in schäumende Ungeheuer. Auf dem Ozean segelt ein grosses Schiff Richtung Süden. Wenn er doch der Kapitän dieses Schiffes wäre! Er würde zu neuen Ufern aufbrechen, viele Abenteuer erleben, weit weg von den grünen Auen.